Josquin Desprez (ca. 1450-1521) war zu seinen Lebzeiten der wohl bekannteste Komponist Europas. Zu seinem Werk zählen zahlreiche geistliche und weltliche Werke, darunter 16 Messen. Heute ist er uns vor allem als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten frankoflämischen Vokalpolyphonie bekannt, einer Generation von Komponisten, deren Ideal die vollständige Gleichberechtigung aller musikalischen Stimmen war. Jede Stimme bewegte sich in einem bestimmten Verhältnis zu allen anderen, im gleichzeitigen Gleichgewicht und größtmöglicher individueller Freiheit.

Josquins Ruhm ließ auch bis später ins 16. Jahrhundert nicht nach und so kommt es, dass noch einige Jahrzehnte nach seinem Tod eine Reihe spanischer Vihuelisten seine Musik für ihr Instrument transkribierten. Die Vihuela gilt inzwischen als Vorläufer der Gitarre. Sie besitzt 6 Saiten, die bis auf eine Ausnahme im gleichen Verhältnis wie jene der Gitarre gestimmt werden, nur um eine kleine Terz erhöht. Während die meisten Vihuelisten sich einzelne Sätze aus Josquins Messen oder anderes kurzes Material zu arrangieren, entschloss sich der Amateurmusiker Diego Pisador dazu, acht vollstänige Messen für Vihuela solo einzurichten. Dieses Vorhaben brachte ihn nicht nur Zeit seines Lebens in finanzielle Schwierigkeiten, sondern erweist sich auch bis zum heutigen Tage als beinahe unnachvollziehbar. Denn obgleich Gitarre und Vihuela Instrumente zum mehrstimmigen Spiel geeignet sind, ist die Anzahl der Stimmen begrenzt. Kaum etwas aus dem üblichen Gitarrenrepertoire funktioniert als stringent vier- oder fünfstimmige Musik. Zudem erschwert das schnelle Ausklingen der gezupften Saiten die Darstellung der linearen Verläufe der zeitgleich erklingenden Stimmen. Gitarre wie Vihuela tendieren dazu, die punktuellen, harmonischen und rhythmischen Elemente hervorzuheben, was im Kontrast zu einer Musik steht, deren Ausgangspunkt die horizontale Linie ist. So hat bis zum heutigen Tage weder ein Vihuelist noch Gitarrist diese Transkriptionen aufgenommen. Dabei setzen sie sich in ihrer kompositorischen Qualität, in der Ausgereiftheit der Stimmführung und Ideenvielfalt von allem ab, was an vergleichbarem Repertoire zur Verfügung steht. Zu enorm scheint das Vorhaben, das Pisador 1547, 26 Jahre nach Josquins Tod, in seinem Libro de musica de vihuela veröffentlichte. In dieser Publikation finden sich wie für ihre Zeit üblich Eigenkompositionen Pisadors, Lieder und eben die Transkriptionen der acht Messen.

Diese sind in Tabulatur dargestellt, einer der Notenschrift ähnlichen Musikschrift, die die Griffpositionen auf den Saiten mit den Anschlagsrhythmen der Töne kombiniert. Ironischer Weise lässt sich in der Tabulator jedoch immer nur das rhythmische Verhältnis von einem zum nächsten Ton abbilden, wodurch die Tabulatur sich kaum zur Abbildung polyphoner Musik eignet. Da nur der Punkt des Anschlags nicht jedoch die Dauer der einzelnen Töne angegeben ist, erschließen sich die komplexen Überlagerungen und Verschränkungen der Stimmen nur aus der interpretatorischen Arbeit und der Studie des ursprünglichen Notentexts.

Abstrakt gesprochen wirft die Transkription von ganzen Messen fragen der Übersetzbarkeit und der Universalität von Musik auf. Einerseits zeichnet sich die Musik Josquins durch ihr ausgereiftes System aus, d.h. sie ist „logisch“ nachvollziehbar und sollte sich unabhängig von bestimmten Klangfarben oder Wiedergabekonditionen darstellen lassen. Auf der anderen Seite fehlt bei einer solchen Transkription nicht nur der Text der lateinischen Messe, sondern auch der religiöse Kontext überhaupt, der inhärent beseelte Klang der Stimmen, die Raumakustik einer üblichen Kirche und die individuelle Verkörperung der Stimmen, die nun von einem einzigen Instrumentalisten dargeboten werden, der die Balance zwischen Gesamtklang und Entfaltung der individuellen Stimmen nun in seiner eigenen Hand finden muss. Wie verändert sich die Musik, wenn sie sich auf so vielschichtige Weise von ihrem Original entfernt?

Diese Frage führt zum zweiten Bestandteil des Projekts: Die elektronische Weiterverarbeitung der ursprünglichen Kompositionen. Nach allen eben genannten Elementen verschwindet damit nun auch der Aspekt der vokalen oder instrumentalen Aufführung als auch vor allen Dingen der Kontrapunkt, jenes theoretische Grundgerüst auf dem diese Musik fußt. So bleiben uns letztendlich nur Übersetzungen, Fragmente, Mißverständnisse erhalten, wenn der Weg von einem Messtext zu einer Vokalkomposition zu einem Instrumentalwerk für Vihuela gespielt auf einer Gitarre zu einer elektronischen Abstraktion beschritten wird. Doch geht in diesem Prozess nicht nur eine vorstellbare Authentizität verloren, sondern es wird ein neues Potential freigelegt, das sowohl im Original angelegt sein wie auch darüber hinausgehen kann. Es wird uns diese alte Musik, die zu hören wir längst vergessen und verlernt haben, wieder präsent als eine fremde, ungeahnte Gegenwart.

Josquin Desprez: Missa ad Fugam

Likely to be the world premiere recording of Diego Pisador’s transcription of Josquin’s early Missa ad fugam. This mass for four voices is the earlier of two entirely canonical masses by the famed composer and a rigorously mathematical work whose five movements all begin with exactly the same head motif.

There exists a revised version of the complete Sanctus and Agnus dei which differs considerably from the original version. It is believed to have been made by the composer himself during the later years of his life and shows a much more free style. However, Pisador transcribed only the original version from which additionally the second part of the Agnus dei is missing. This missing movement and the revised versions were replaced by electronic compositions. They were created using vocal recordings of these pieces and combining them with the original versions using a technique called convolution reverb. In this technique a sound is played into a room recording (impulse response) to create the impression of it taking place within that space. Instead of a room either the new or the original versions were played into be their respective other.

The mass was recorded on an 8-string terce guitar by Luciano Lovadina.

Tabulatur

Folgend die Tabulaturen zur Missa ad fugam. Die unterste Linie bildet die höchste Saite der Vihuela/Gitarre ab, die Zahl stellt den zu greifenden Bund dar. Das Facsimile wurde von John-Robin Bold anhand einer Originalpartitur der Messe für Stimmen überarbeitet. Oft sind klingende Noten von Pisador wiederholt, was das ganze noch akkordlastiger und macht und die Rhythmen der einzelnen Stimmen verschleiert. Außerdem sei zu erwähnen, dass bei den gegriffenen Tönen c/cis und d/dis (klingend in der Aufnahme eine kleine Terz höher) Diskrepanzen zwischen verschiedenen Ausgaben und Einspielungen herrschen. Die Entscheidungen darüber wurden frei vom Interpreten getroffen.